»Es ist wie ein Spiegel!« Er sah den jungen Mann mit ernstem Blick an und es schien, als ob der junge Mann unter dem Blick der eisgrauen Augen noch blasser wurde. »Was denkst du, was ich sehe?«
Der junge Mann schüttelte langsam seinen Kopf und zog seine Mundwinkel nach unten.
»Genau!«, sagte der ältere Mann laut. »Nichts! Ich sehe nichts! Der Spiegel ist leer! Was hast du dazu zu sagen?«
Der junge Mann zog noch einmal seine Schultern hoch, diesmal mutlos. Kraftlos.
»Was machst du hier, wenn dein Spiegel leer bleibt? Darüber musst du nachdenken! Was – machst – du – hier?«, sagte der ältere Mann und warf dem Jüngeren einen verächtlichen Blick zu. Dann drehte er sich mit einem Ruck um, wie ein Elitesoldat nach dem Salutieren, und verließ das Atelier der Akademie. In der Tür murmelte er noch einmal halblaut »Darüber musst du nachdenken! Ich sehe nichts!«
Der junge Mann setzte sich auf den farbverschmierten Hocker vor das Bild. Seine Augen scannten die Linien und Flächen, die er in den letzten drei Wochen erschaffen hatte. Er nahm die Farben in sich auf, das kalte Blau, das leblose Grau. Den ganzen Nachmittag blieb er sitzen, sein Blick starr auf das Gemälde gerichtet. Aber die Linien blieben, wo sie waren, und das Blau und das Grau veränderten sich in keiner Nuance. Was genau meinte er nur damit? Warum konnte er nichts anderes bedenken? Schließlich stand er auf und tropfte einen Klecks gelber Farbe auf die Palette. Mit einem dicken Pinsel tauchte er in den warmen, schon fast orangefarbenen Haufen. Es hatte so viel Potential. Ja, das hatte es. Und er auch, das hatte er schon oft gehört. Er und seine Bilder hatten Potential. Dieser Farbkleck konnte alles werden. Eine Sonnenblume, ein Sonnenuntergang. Die leuchtenden Haare einer einsamen Frau in einem verlassenen Nachtkaffee. Ja, alles war doch möglich. Alle Wege waren offen, warteten darauf, dass er sie beschritt. Zögerlich machte er einen Strich. Mit einer zweiten, schnelleren Bewegung schuf er einen dicken gelben Balken, quer durch das kalte Blau und das leblose Grau. Er ging einen Schritt zurück und ließ den Pinsel sacken. In seinem Kopf bildeten sich Buchstaben. Ein V und ein R, am Ende ein T. Es war nichts.
»Bloß nicht denken«, sagte er laut. »Es ist okay, nur ein Bild. Ich kann noch Hunderte malen. Tausende.«
In Theorie war das richtig, schließlich hatte er noch sein ganzes Leben vor sich. Noch keine zweiundzwanzig Jahre war er alt. Damals ahnte er natürlich nicht, dass das nicht wahr war. Er konnte ja auch nicht wissen, dass er auf das letzte Bild blickte, das er jemals erschaffen würde. Hätte er sonst im nächsten Moment den Pinsel angehoben und weiter gemalt. Hätte er das Grau und das Blau dem Gelb geopfert? In der Hoffnung auf ein kleines wenig Sichtbarkeit?
Als er am Abend das Gebäude verließ, war das kalte Blau überdeckt und auf dem leblosen Grau wucherten senfgelbe Blumen. Er ging zur Bushaltestelle und wartete. Als er den roten Doppeldecker in die Straße einbiegen sah, schritt er ein Stück vor, bis er am Bordstein stand. Er hob seine rechte Hand und winkte. So wie immer. Der Busfahrer jedoch behielt seinen leeren Blick auf die Fahrbahn gerichtet und fuhr weiter, ohne auch nur einmal Augenkontakt zu suchen.
»Er hat mich nicht gesehen«, sagte der junge Mann leise. Ein Gefühl des Entsetzens breitete sich in seinem Körper aus. »Heute Morgen hat er doch noch gestoppt, aber jetzt hat er mich übersehen.«
Und auch der Fahrer des nächsten Busses blickte durch den jungen Mann hindurch und fuhr einfach weiter. Mit müden Schritten ging er zur nächsten U-Bahnhaltestelle und stieg in den hintersten Wagon. Niemand sah ihn an. An der Endstation stieg er aus und wanderte bis zu dem Haus, in dem er ein kleines Zimmer mit Bett und Kühlschrank mietete. Hoch am Himmel leuchtete der blutrote Mond. Er dachte an das Bild, aber er sah noch immer das kalte Blau und das leblose Grau. An die Form der wuchernden senfgelben Blumen konnte er sich nicht erinnern. Als ob es sie nicht gab. Nie gegeben hatte.
»Wahrscheinlich ist es einfach nicht mein Ding«, sagte er leise und krabbelte ins Bett. Als am nächsten Morgen der Wecker klingelte, drehte er sich um und blieb liegen.
