Dinner mit Dingen – Kurzgeschichte

Die Tür ließ sich nur einen Spalt öffnen, braune Umzugskartons blockierten über die Hälfte des ohnehin schon schmalen Treppenhauses. Rechts, links, meterhoch. Auf den Stufen, im Gang bis hin zum Wohnzimmer, in der Küche, neben und unter den Betten, sogar auf dem Klo. Überall waren Dinge. Sehen jedoch, konnte ich sie nicht. Sie lagen verpackt unter wackeligen Stapeln begraben. Also ging ich an ihnen vorbei und setzte mich an den Tisch, der, wie sollte es anders sein, umringt war von Kartons und Behältern. Gerade genug Platz gab es, um den Stuhl ein Stück vom Tisch wegzuziehen. Ich setzte mich und sah in die Gesichter der anderen. Fröhlich redeten sie miteinander, schenkten Wein ein und griffen nach der Vorspeise. Eine weichgekochte, mit Preiselbeeren garnierte Birne.
War ich die Einzige hier, die sich von den verborgenen Dingen bedrängt fühlte?
Die ihre Gegenwart als nervös-machendes Drücken in der Magengegend wahrnahm?
Zu allem Überfluss waren die meisten Dinge alt und aus ihren Poren dünsteten Geschichten.

»Sie kämpfen gegen das Vergessenwerden, denn sobald die letzte Geschichte unerhört aus den Poren der Dinge entwichen ist, zerfallen sie zu Staub«, schoss es mir in den Kopf.

»Du hast recht, die Geschichten sind unsere Existenzberechtigung«, hauchte eine zerkratzte Suppenkelle mit einem schiefen hölzernen Griff, die an dem Regal neben meinem Kopf hing. Ich schielte möglichst unauffällig zur Seite. Ihre Stimme war tief und vorwurfsvoll. »Frag nach meiner Geschichte!«, sagte die Suppenkelle lauter.

Fast unmerklich schüttelte ich meinen Kopf. Die Gastgeberin hatte es dennoch gesehen und warf mir aus dem Augenwinkel einen missbilligenden Blick zu.

»Meine Geschichte werden sie niemals vergessen«, mischte die nachtschwarze Grätenzange sich ein.

»Meine Geschichte ist die Wichtigste! Darum sitze ich hier oben auf diesem Regal, direkt über dem Esstisch. Ohne mich gäbe es die dort unten nämlich gar nicht.«

Die Spitzen der Grätenzange richteten sich kaum wahrnehmbar auf die Gastgeberin und ihre Töchter.

»Wollt ihr sie hören? Natürlich wollt ihr das! Also, erschaffen wurde ich im Jahre 1747 von einer adretten Brünetten namens Cornelia. Ihr Ehegatte ist leider früh verstorben, mit nur einunddreißig Jahren. Sie munkelten, dass er der Pest zum Opfer gefallen war. Aber das nur am Rande, meine wirkliche Geschichte begann viele Jahrzehnte später an einem Sonntagmittag im Mai des Jahres 1821. Mein Silber war bereits angelaufen, wer weiß wie viele Jahre schon nicht mehr geputzt wurde. Jahrzehnte lag ich unbenutzt in einer Schublade. Messer und Gabeln wurden auf mich geschmissen und wieder aus dem Besteckfach herausgerissen. Die Kratzer verunstalteten meine vernachlässigte Oberfläche. Ich blieb liegen. Morgens, mittags, abends. Immerzu blieb ich in der Schublade, zwischen Brotkrümeln und Hundehaaren. Egal, ob draußen eine sommerliche Hitze herrschte oder sich die Feuchtigkeit eines verregneten Herbsttages auf die Glasscheiben legte. Alles, was ich wahrnahm, war die Veränderung der Luft. Bis zu diesem sonntäglichen Familientreffen, mit festlichem Anlass im späten Mai. Der zwanzigste Geburtstag von Fräulein Tineke.
Auf einmal wurde die Schublade aufgerissen. Es schepperte laut und eine alte Frauenhand griff nach mir. Sie hob mich energisch empor und hielt mich in das grelle Licht der tiefstehenden Sonne. Ihre Finger zitterten, etwas stimmte nicht. Sie rannte mit mir aus der Küche, ihr Atem keuchte, bei jedem Schritt stöhnte sie auf. Ganz eindeutig war sie schon lange nicht mehr so schnell gelaufen.
Schließlich blickte ich hinab auf den Esszimmertisch, so viele Menschen auf einem Haufen hatte ich ehrlich gesagt noch nie zuvor gesehen. Und diese Menschengruppe machte auch noch höchst unangenehme Geräusche. Es war geradezu ein Schock. Einige schrien laut, andere heulten leise. Ein Mann gab Kommandos, die niemand befolgte. Ich fühlte ihre Angst in den Schwingungen der Luft. Und dann sah ich den Rachen, die Gräte hatte ich schnell erwischt. Das Lachen hallte durch das Esszimmer. Ja, es war ein unglaublicher Moment.«

Der Hausherr brachte das Hauptgericht und die Grätenzange verstummte. Während ich die Roulade anschnitt, die man mir auf den Teller gelegt hatte, fühlte ich ihren harten silbernen Blick auf meinem Gesicht.

»Und darum thront sie jetzt für immer auf dem obersten Brett des Regals?«, brummte der Handspiegel mit perlenbesetzter Klappe verächtlich.

»Was ist deine Geschichte wert?«, fauchte die Grätenzange ihm zu. »Na? Sag schon! Was hast du beigetragen? Wen hast du gerettet?« Sie wartete einen Moment, aber der Handspiegel wandte seinen Blick ab. »Soll ich dir sagen, warum du schweigst? Weil du unwichtig bist! Sobald eine Perle abfällt oder dein Spiegel matt wird, landest du im Müll. Niemand wird dich vermissen. Niemand wird dich erinnern, denn du bist ein geschichtenloses, dekoratives Nichts.«

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